Ötztaler Radmarathon (30. August 2015)

(von Joe K) Der Ötztaler Radmarathon ist nicht der härteste, aber sicher der bekannteste und prestigeträchtigste Rennradmarathon in den Alpen. Der Klassiker wurde dieses Jahr bereits zum 35. Mal ausgetragen. Seit 24 Jahren wird er im bekannten Skiort Sölden gestartet und endet auch dort. Für weit über 20.000 Bewerber stehen lediglich 4000 „normale“ Startplätze zur Verfügung – das Los entscheidet. Weitere 300 bis 400 Teilnehmer werden vom Veranstalter gesetzt. Das Riesenevent am Ende der Sommersaison ist bestens organisiert. Alle Streckenabschnitte werden vom Verkehr freigehalten: einmalig! Ebenso die Kosten für die Großveranstaltung: unter EUR 150 ! Die Strecke ist laut Veranstalter 238 Kilometer lang - dabei müssen 5500 Höhenmeter bewältigt werden. Vier Alpenpässe sind in der Reihenfolge Kühtai (2020 M, 1200 Hm), Brenner (1377 M, 777 Hm), Jaufenpass (2090 M, 1130 Hm) und Timmelsjoch (2509 M, 1759 hm) zu überwinden. Das hohe und steile Timmelsjoch ist als letzter Anstieg eine besondere Herausforderung.

Es war ein lang ersehnter Traum auf meinem Sportkalender: ein reines Radrennen, ein Mythos. So habe ich mich im Frühjahr auf der Homepage (http://www.oetztaler-radmarathon.com/de) für kleines Orga-Geld bei der Lotterie angemeldet und wurde Ende Februar per eMail benachrichtigt, einer von ca 4000 Radlern zu sein. Das Startgeld in Höhe von EUR 130 habe ich dann schnell überwiesen. Wenn die Überweisung nicht innerhalb von 4 Wochen erfolgt, gehen die nicht akzeptierten Startplätze dann in eine 2. Ziehung. Ich ging trotz guter Vorbereitung mit gehörigem Respekt an die Aufgabe heran. Seit Jahren warteten die Organisatoren auf gutes Wetter an diesem letzten Augustwochenende war es soweit: blauer Himmel, keine Wolke und erwartete Spitzenwerte von 35 Grad. 
 
Um 6:15 Uhr reihe ich mich mit den vielen anderen in der Hauptstraße Söldens (1370Hm) ein. Vorne an der Startlinie auf Höhe der BP Tankstelle befinden sich ehemalige Radsportgrößen wie Jan Ullrich oder Jörg Ludewig sowie eine Reihe von ehrgeizigen Tirolern und Italienern, die unbedingt einmal diese prestigeträchtige Klassikerrunde gewinnen wollen. Für mich galt es nur durchzukommen, wobei ich mir insgeheim eine Zeit "um die 10 Stunden" vorgenommen hatte.
 
Pünktlich um 6:45 Uhr erfolgt der Startschuss und das Peloton setzt sich zügig in Bewegung.
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Mit mehr als 40 km/h im Schnitt geht es zunächst - immer entlang an der Ötztaler Ache - kontinuierlich runter nach Ötz (820Hm). Größte Vorsicht ist bei den Verkehrsinseln und diversen Ortsdurchfahrten mit Kreisel geboten. In Ötz erfolgt dann der 1. Anstieg über 1200 Hm auf das Kühtai: Der Name ist Programm:
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Es geht gleich mit 10-12% Steigung gut zur Sache und ich schalte früh in die kleinsten Gänge meiner 53-39 Kassette mit 12-28 Übersetzung (im Nachhinein definitiv ein Fehler, nicht mit einer Kompaktkurbel anzutreten). Insgesamt geht es 18,5km stetig bergauf mit einer fiesen Stelle mit 18%. 
 
Ich bin noch unbeeindruckt, dass der Großteil meiner Mitfahrer mit Kompaktkurbel unterwegs ist und erreiche nach knapp 2 Stunden mit den ersten Sonnenstrahlen den ersten Gipfel auf 2020 Meter und den ersten Kontrollpunkt (KM51). Die Kunst ist nun, die Anfangseuphorie möglichst lange zu konservieren, denn 3 weitere Gipfel und weitere 4000 Hm warten in der Ferne. Da ich mich gut mit Riegel, Gelflasche und Iso-Getränken ausgestattet habe, geht's für mich ohne Stopp gleich in die Abfahrt. Mit 90km/h vorbei an Kuhweiden und ohne 4-Beiner auf der Straße rasant ins Tal. Nach den ersten Kurven werde ich auch etwas mutiger und versuche etwas weniger zu bremsen. So kam dann wohl auch die neue Höchstgeschwindigkeit von 100,60 km/h zustande - leider flog dabei auch meine Gelflasche aus der Halterung. 
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Unten geht's in guter Gesellschaft auf einem 22km Flachstück weiter nach Innsbruck. Dort wartet die alte Brennerstraße, die zwar mit 39km relativ lang ist, doch mit überwiegend ca 4-5% Steigung sehr gut zu fahren ist. Leider komme ich nicht wirklich in meinen Rhythmus und muss diverse Gruppen ziehen lassen. Ich kann den nächsten Kontrollpunkt bei km 120 kaum erwarten und nehme mir gut 10-15 Min Zeit fürs Carboloading. Leider spürte ich auf den letzten Kilometern bereits erste Krämpfe in der Oberschenkel-Innenseite. Oje, denke ich mir. Das kann ja heiter werden ! Nach der schnellen Abfahrt nach Sterzing durchfahre ich Ratschings, wo ich einige Jahre mit der Familie die Winterferien verbracht haben. Dann winkt schon das Schild in Richtung Jaufenpass, dem nächsten langen Anstieg mit 1130 Höhenmeter.
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Der Jaufenpass ist ein schön gleichmäßig steiler Anstieg, der gut zu fahren und abwechslungsreich ist. Bis zu einer Höhe von 1800m geht es über einige Serpentinen im Schatten spendenden Wald aufwärts, ehe man oberhalb der Baumgrenze dann Liftanlagen und schroffe Gipfel erspäht. Auf den letzten 250 Hm wird es nochmals unangenehm steil mit 12%, bevor zwei Kurven vor Ende die Verpflegungsstelle eingerichtet wurde. 
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Die Abfahrt von 2090m ü.M. bis nach St. Leonard im Paseiertal (750m ü.M.) ist rasant und fast ein bisschen kriminell, zumal der Asphalt an vielen Stellen brüchig geworden ist. Je näher ich mich dem Tal nähere, desto stärker spüre ich die Hitze. Unten angekommen hat es gefühlte 40 Grad und spätestens jetzt - nach 171 gefahrenen Kilometern - habe ich Gewissheit, dass das Timmelsjoch auf 2500m ü.M. in 31km Entfernung mein Scharfrichter werden wird. Ich beginne mit der Rechnerei und könnte bei kontinuierlicher Fahrt die anvisierte 10h Marke knacken. Also 2:30h nur bergauf ! Der Gedanke killt mich. Mir fehlen definitiv 2 Ritzel !!! Tatsächlich zeigt mein Tacho teilweise nur 8.5km/h. In den Kurven wird jetzt häufiger angehalten und es dauert nicht mehr lange, da muss auch ich im Schatten einfach nur anhalten. An einer Tankstelle ziehe ich mein Unterhemd aus und dusche mich mit einem Wasserschlauch ab. Die Hitze ist unerträglich jetzt, mein Radtrikot hat weiße Salzflecken. Bei KM 191, auf einer Höhe von 1700m und 11km vor dem Gipfel gibt es die vorletzte Labestation. Dort stärke ich mich nochmals ausgiebig, ehe ein kleiner Italiener seinen Arm in den Himmel streckt und mir die letzten Serpentinen hinauf zum Timmelsjoch zeigt. So brutal hätte ich den letzten Anstieg nicht erwartet, doch plötzlich erinnere ich mich an die ausführliche Beschreibung auf der Insider-Internetseite für Alpenpässe (http://www.quaeldich.de/paesse/timmelsjoch/#StLeonhard) - höllische Qualen, brennende Oberschenkel, totale Erschöpfung... ja, ich bin da voll dabei !
 
Nach der 3. Spitzkehre geht es in den Tunnel und nach einer kurzweiligen Abfahrt folgt der allerletzte Anstieg über nochmals 250hm.
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Vorbei an der neuen Mautstation bei Obergurgl rase ich mit 100km/h runter nach Zwieselstein und dann entlang der Ötztaler Ache zurück nach Sölden, wo vor 10:45 Stunden alles begann.
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Ich bin glücklich im Ziel. Die Strapazen sind schnell vergessen und die Lust, es wieder mal zu versuchen, ist schon wieder da.

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